Lion Feuchtwanger und die deutschsprachigen Emigranten in Frankreich von 1933 bis 1941

Lion Feuchtwanger et les exilés de langue allemande en France de 1933 à 1941

Autor/Hrsg Auteur/Editeur: Azuélos, Daniel (Hg.)
2006, Peter Lang Verlag, ISBN10: 3039109995

Dieses Buch jetzt bei Amazon.de ansehen
Dieses Buch wurde rezensiert in der Ausgabe: Dokumente 2/2008 

Voir ce livre sur Amazon.fr
Ce livre a fait l'objet d'un compte rendu de lecture dans le numéro : Dokumente 2/2008 

Rezension / Compte rendu:
Autoren im französischen Exil

Am 11. Juli 2001 wurde auf Initiative von amerikanischen und europäischen Literaturwissenschaftlern und Journalisten in Pacific Palisades (USA) die "Internationale Feuchtwanger-Gesellschaft / International Feuchtwanger Society" (www.arts.ulster.ac.uk/hri/res/german/ ifs/index.html) gegründet, die sich der Erforschung von Leben, Werk und Wirkung des deutschen Schriftstellers Lion Feuchtwanger (1884–1958) widmet und seither drei große Feuchtwanger-Kongresse organisiert hat.
Der zweite von der Feuchtwanger-Gesellschaft organisierte Kongress fand im Juni 2005 in Sanary-sur-Mer statt. In jenem kleinen französischen Seebad an der Côte d’Azur im Département Var also, in dem viele politisch beziehungsweise "rassisch" verfolgte deutsche Schriftsteller und Intellektuelle nach 1933 Zuflucht vor der Verfolgung durch die Nationalsozialisten suchten, bevor sie anderswo Exil fanden, zu Beginn des Zweiten Weltkrieges als "unerwünschte Ausländer" in französische Internierung gerieten (zum Beispiel in die Lager Les Milles oder Gurs) oder sich aus Verzweiflung das Leben nahmen, wie der Philosoph und Literaturhistoriker Walter Benjamin. Ab 1933 wurde Sanary-sur-Mer einige Jahre lang zur literarischen Diaspora und zum geistigen Zentrum der literarischen Emigration aus Deutschland. Einige der damals größten Namen der deutschen Literatur lebten und arbeiteten zwischen 1933 und 1941 zumindest eine Zeit lang dort. Neben dem deutsch-jüdischen Erfolgsschriftsteller Lion Feuchtwanger, der nach der Machtergreifung der Nazis nicht mehr von einer USA-Reise nach Deutschland zurückkehrte, sondern in Sanary-sur-Mer eine Villa kaufte und dort höchst produktiv arbeitete, unter anderem auch so namhafte deutschsprachige Autoren wie Thomas, Heinrich, Klaus und Erika Mann, Arnold Zweig, Franz Hessel, Franz Werfel, Bertolt Brecht, René Schickele, Joseph Roth, Hermann Kesten und andere mehr.
Feuchtwanger und seine Frau Marta lebten bis Mai 1940 in Sanary-sur-Mer, dann wurden sie getrennt in französischen Lagern interniert, aus denen sie aber beide fliehen konnten, lebten versteckt in Marseille und gelangten schließlich im September 1940 über die Pyrenäen, Spanien und Portugal nach den USA, wo sie im kalifornischen Pacific Palisades – aufgrund des internationalen Erfolges insbesondere von Feuchtwangers historischen Romanen in materieller Sicherheit – ihren Lebensabend verbrachten.
Über seine Erlebnisse im Internierungslager Les Milles bei Aix-en-Provence veröffentlichte Feuchtwanger 1942 den autobiographischen, mit den Franzosen hart ins Gericht gehenden Bericht "Unholdes Frankreich", der 1954 unter dem Titel "Der Teufel in Frankreich" wieder veröffentlicht wurde. Frankreich beziehungsweise Ereignisse und Gestalten aus der französischen Geschichte sind auch Thema einiger Dramen, Essays und vor allem historischer Romane Feuchtwangers, zum Beispiel "Exil" (1940), "Waffen für Amerika" (1947) oder "Narrenweisheit oder Tod und Verklärung des Jean-Jacques Rousseau" (1952). Wenn die Internationale Feuchtwanger-Gesellschaft 2005 in Sanary-sur-Mer einen Kongress über "Lion Feuchtwanger und die deutschsprachigen Emigranten in Frankreich von 1933 bis 1941" veranstaltete, hatte sie also zum einen den denkbar passenden Ort für eine solche Veranstaltung gewählt und sich zum anderen ein wichtiges Thema der Feuchtwanger-Forschung (und darüber hinaus der Exilforschung) ausgesucht. Die Akten des Kongresses hat der in Amiens lehrende französische Germanist Daniel Azuélos, Präsident der französischen Sektion der Internationalen Feuchtwanger-Gesellschaft, in einer bis auf fehlende Namensund Sachregister vorzüglichen Edition 2006 beim Peter Lang Verlag herausgegeben. Der umfangreiche Sammelband enthält neben einem Vorwort von Azuélos und einer Ansprache von Ian Wallace, dem Vorsitzenden der Internationalen Feuchtwanger-Gesellschaft, alle 36 beim Kolloquium gehaltenen Vorträge. Und zwar in vollem Umfang, mit ergänzenden Fußnoten und in ihren jeweiligen Vortragssprachen Deutsch, Englisch und Französisch. Jedem Beitrag ist eine Zusammenfassung in den anderen Konferenzsprachen vorangestellt. Den Schwerpunkt der Vorträge, die von deutschen, französischen, englischen und amerikanischen Feuchtwanger- beziehungsweise Exilforschern stammen, bilden Studien zu Feuchtwangers in der Weimarer Republik und im französischen Exil geschriebenen Werken, zu seinem Frankreichbild und zu seinen Lebensumständen im Exil. Andere Beiträge, bei denen Feuchtwanger nicht im Fokus steht, beschäftigen sich mit den französischen Exilerfahrungen von zum Beispiel Manès Sperber, Rudolf Leonhard, Joseph Roth, Soma Morgenstern, Franz Werfel und anderen deutschsprachigen Autoren beziehungsweise beleuchten allgemeine Aspekte der in Frankreich entstandenen deutschsprachigen Exilliteratur und deren Wirkungsgeschichte.
Wie bei umfangreichen Kongressakten nicht verwunderlich, ist die stilistische und literaturwissenschaftliche Qualität, Prägnanz und Relevanz der einzelnen Beiträge, die in ihrer Gesamtheit ein breites Forschungsspektrum abdecken, nicht auf gleichwertig hohem Niveau, wirklich negative "Ausreißer" gibt es aber nicht. Für die Feuchtwanger-Forschung und die Erforschung des literarischen deutschen Exils in Frankreich und insbesondere in Sanary-sur-Mer liefert der Sammelband einerseits einen facettenreichen Überblick des aktuellen Forschungsstandes und andererseits viele Anregungen für weitere Studien.
Eine umfassende Studie zu Feuchtwangers vielschichtigem Frankreich-Diskurs, eine ausführliche Untersuchung der Rezeption Feuchtwangers in Frankreich oder eine große imagologische Studie zu Feuchtwangers Frankreichbild sind beispielsweise nach wie vor Desiderata der germanistischen Feuchtwanger-Forschung und der deutsch-französischen Komparatistik. Vielleicht ändert sich dies im Jubiläumsjahr Lion Feuchtwangers, dessen Tod sich am 21. Dezember 2008 zum 50. Male jährt.
Horst Schmidt

Dieses Buch jetzt bei Amazon.de ansehen
Voir ce livre sur Amazon.fr
Lion Feuchtwanger und die deutschsprachigen Emigranten in Frankreich von 1933 bis 1941